19

 

Am nächsten Morgen erwachte Sam wie zerschlagen innerhalb einer regenerierten Welt. Der Drei-Uhr-Regen hatte sowohl das Blut wie den Gestank des Schießpulvers hinweggewaschen. Die Leichen waren fort, der Himmel wieder blau und klar. Die Arbeit wartete auf die Bürger von Parolando, die jetzt vierhundertfünfzig weniger waren als am Vortag: Die Hälfte davon war tot, die andere bedurfte aufgrund ihrer Verletzungen dringlicher Pflege. Denjenigen, die von ihrem Elend erlöst zu werden wünschten, hatte man nachgegeben. Die Zeiten, in denen die Axt für solche Dinge zuständig war, gehörten der Vergangenheit an: längst übernahm eine Pille diese Arbeit.

Manche der Schwerverwundeten entschieden sich, die Sache durchzustehen. Andere, die glaubten, die Schmerzen nicht ertragen zu können, baten um das Gift, und die Körper, die sie zurückließen, wurden der Verwertungsanlage zugeführt.

Sams Sekretärin gehörte ebenfalls zu den Toten, und so fragte er Gwenafra, ob sie bereit sei, Millies Platz einzunehmen. Sie schien sich geehrt zu fühlen. Die neue Position verlieh ihr einen höheren Status, und außerdem hatte sie niemals ein Geheimnis daraus gemacht, daß sie Sam gut leiden konnte. Lothar von Richthofen schien dies allerdings weniger zu gefallen.

»Warum sollte sie nicht meine Sekretärin sein?« fragte Sam zurück. »Gibt es einen Grund dafür, außer dem, daß du hinter ihr her bist?«

»Natürlich gibt es keinen Grund dafür«, erwiderte Lothar. »Aber du schmälerst meine Chancen, wenn sie den größten Teil des Tages in deiner Nähe ist.«

»Möge der beste Mann gewinnen.«

»Das meine ich auch, aber es gefällt mir einfach nicht, daß du sie zeitlich in Anspruch nimmst, obwohl ich genau weiß, daß du doch auf keine andere Frau Wert legst, solange Livy in der Nähe ist.«

»Es geht Livy überhaupt nichts an, was ich tue«, grollte Sam. »Das solltest du dir hinter die Ohren schreiben.«

Lothar lächelte dünn und sagte: »Sicher, Sam.«

Gwenafra ging mit Sam herum, erledigte seinen Schriftkram, sandte in seinem Namen Botschaften ab, brachte seinen Terminkalender auf Vordermann und erinnerte ihn an angesetzte Besprechungen. Trotz seiner vielen Verpflichtungen fand er sogar hin und wieder die Zeit dazu, mit ihr zu plaudern und Witze zu reißen, und jedes Mal wenn er sie dabei ansah, spürte er, daß sie ein warmes Gefühl in ihm erzeugte. Gwenafra schien ihn tatsächlich zu verehren.

Zwei Tage zogen ins Land. Die ununterbrochenen Arbeiten an dem Amphibienfahrzeug zeigten die ersten Resultate: In zwei Tagen würde es fertig sein. Die Delegation aus Soul City sah sich unterdessen, bewacht von zwei Männern aus Johns Garde, im Lande um. Joe Miller, der nach der Schlacht seine Verletzung im Bett auskuriert hatte, meldete sich gesund wieder zur Arbeit. Jetzt, wo sowohl Gwenafra als auch der Titanthrop wieder zu seiner Verfügung standen, fühlte Sam sich schon besser – obwohl er noch immer weit genug von einer Hochstimmung entfernt war. Die Trommeln berichteten, daß mittlerweile seine Schiffe mit Feuerstein beladen waren, sich auf dem Rückweg befanden und in einem Monat eintreffen würden. Eine Flotte von zehn Booten war flußabwärts gefahren, um mit der Führerin von Selinujo ein Geschäft abzuschließen. Auf der Erde war diese Frau eine Gräfin Huntington gewesen, die von 1707 bis 1791 gelebt hatte. Ihr Name war Selina Hastings und jetzt gehörte sie der Kirche der Zweiten Chance an. Daß sie an ihr Feuersteinlager herankamen, lag hauptsächlich daran, daß man es Görings Anhängern erlaubt hatte, in Parolando ungehindert ihre Theorien zu verbreiten. Als Gegenleistung hatte man ihr außerdem ein kleines, metallenes Dampfschiff versprechen müssen, in dem sie später flußauf- und flußabwärts fahren wollte, um Predigten abzuhalten. Sam hielt diese Frau für eine ausgemachte Närrin, denn er zweifelte nicht daran, daß man ihr – allein um an ihr Boot heranzukommen – bereits am ersten Anlegeplatz die Kehle durchschneiden würde. Aber das war ihr Problem.

Dann trafen sich die Ratsherren mit der schwarzen Delegation am größten Tisch in Johns Palast. Sam hätte die Besprechung am liebsten abgeblasen, da John sich in einer mordsmäßigen Stimmung befand. Angeblich hatte eine seiner Frauen kurz zuvor versucht, ihn umzubringen (jedenfalls behauptete er das), und ihm eine Messerspitze in den Wanst gejagt, bevor es ihm gelungen war, ihr den Unterkiefer zu zerschmettern und sie mit dem Kopf gegen eine Tischkante zu knallen. Die Frau war eine Stunde später, ohne das Bewußtsein wiederzuerlangen, gestorben, und was Johns Behauptung anging, sie habe ihn zuerst angegriffen, so blieb den anderen kaum etwas übrig, als das zu akzeptieren. Am liebsten hätte Sam nach etwaigen Augenzeugen forschen lassen, aber das war unter den gegebenen Umständen ein Ding der Unmöglichkeit.

John wand sich vor Schmerzen. Außerdem war er halb betrunken, weil er den Gedanken, daß eine Frau gewagt hatte, sich ihm zu widersetzen, nicht ertragen konnte. Er ließ sich ächzend in einen mit großer Rückenlehne versehenen, mit Ornamenten verzierten und mit rotem Hornfischleder überzogenen Sessel sinken und umklammerte mit einer Hand einen riesigen Becher mit Whisky, während in seinem Mundwinkel eine Zigarette hing. Er musterte jeden einzelnen Anwesenden mit finsterem Blick.

Firebrass sagte: »Vor langer Zeit war Hacking der Ansicht, daß es zu einer völligen Trennung von Weißen und Nichtweißen kommen müsse. Er glaubte mit höchster Inbrunst daran, daß die Weißen niemals – jedenfalls nicht mit ihrer ganzen Seele – die Nichtweißen akzeptieren würden: also die Schwarzen, Mongolen, Polynesier und Indianer. Er glaubte, daß die einzige Möglichkeit, mit den Weißen und mit ihrem eigenen Charakter und Stolz fertigzuwerden, darin läge, sich für eine absolute Trennung von Schwarz und Weiß vorzubereiten. Gleichheit: ja. Aber in unterschiedlichen Zonen. Dann sagte sich sein Führer Malcolm X von den Black Muslims los, weil er erkannt hatte, einem falschen Weg gefolgt zu sein, daß nicht alle Weißen Teufel und rassistische Ungeheuer wären; ebenso wenig wie alle Schwarzen breite Nasen hätten. Hacking verließ die Vereinigten Staaten, um in Algerien zu leben, und dort fand er heraus, daß Geisteshaltungen es sind, die Rassismus erzeugen, und nicht die Farbe der Haut.«

Eigentlich weder eine originelle noch überraschende Erkenntnis, dachte Sam. Aber er hatte sich vorgenommen, Firebrass nicht zu unterbrechen.

»Und plötzlich warfen die jungen Weißen der Vereinigten Staaten – jedenfalls sehr viele –, die Vorurteile ihrer Eltern einfach über Bord und unterstützten die Schwarzen in ihrem Kampf. Sie gingen auf die Straße und demonstrierten, probten den Aufstand und warfen sogar ihr Leben für die Schwarzen in die Waagschale. Sie schienen die Schwarzen plötzlich zu mögen, und nicht etwa, weil jemand sie dazu zwang, sondern weil sie erkannt hatten, daß sie menschliche Wesen sind und daß man menschliche Wesen mögen oder gar lieben kann.

Hacking allerdings liebte die Weißen noch immer nicht, wenngleich er sie allerdings durchaus für menschliche Wesen hielt. Seine Vorstellungen wurden ebenso wie die der meisten älteren Weißen in ihren Grundfesten erschüttert. Aber er gab sich die größte Mühe, diejenigen Weißen, die auf seiner Seite kämpften, zu lieben und jene, die zu ihren Eltern sagten, sie sollten sich mit ihren Vorurteilen zum Teufel scheren, zu respektieren.

Dann starb er – wie jeder Mensch auf der Erde, egal ob seine Haut nun schwarz oder weiß war. Er fand sich in einer Gruppe frühzeitlicher Chinesen wieder, was ihn nicht sonderlich glücklich machte, weil sie jedes Volk außer ihrem eigenen für minderwertig hielten.«

Sam erinnerte sich an die Chinesen, die er in den frühen sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in Nevada und Kalifornien kennen gelernt hatte: schwer arbeitende, stille, sparsame, freundliche kleine braune Männer und Frauen. Sie hatten Verhältnisse akzeptiert, die die meisten Weißen nicht einmal einem Maultier zugemutet hätten, hatten sich anspucken, verfluchen, foltern, steinigen, ausplündern, vergewaltigen und Gemeinheiten über sich ergehen lassen, die kaum ein anderes Volk hätte ertragen können. Sie hatten weder irgendwelche Rechte besessen noch jemanden gekannt, der sich ihrer annahm und sie beschützte. Und dennoch hatten sie sich niemals zur Wehr gesetzt oder auch nur einen ihrer Peiniger offen verflucht. Sie hatten alles über sich ergehen lassen. Aber welche Gedanken hatten ihre maskenartigen Gesichter verborgen? Ob sie ebenso wie jene, denen Hacking begegnet war, an die Überlegenheit ihrer Rasse über die verhaßten weißen Teufel geglaubt hatten? Wenn ja – warum hatten sie nicht zurückgeschlagen? Es stand außer Frage, daß ein solches Unternehmen in einem Massaker geendet hätte, aber immerhin wären sie doch für einen gewissen Zeitraum Männer gewesen.

Aber das chinesische Volk glaubte an die Macht der Zeit; die Zeit stand ihnen bei. Wenn sie dem Vater nicht das Glück bescherte, würde sie es für den Sohn bereithalten. Oder für den Enkel.

Firebrass fuhr fort: »Hacking verließ diese Leute in einem Einbaum, ließ sich flußabwärts treiben und viele tausend Meilen weiter bei einer Gruppe von Schwarzen nieder, die aus Afrika stammten, aus dem siebzehnten Jahrhundert. Es waren Vorfahren jener Zulustämme, die später ins südliche Afrika emigrierten. Nach einer Weile aber verließ er auch sie. Ihre Sitten waren ihm widerlich, sie waren ihm zu blutrünstig für seinen Geschmack.

Er lebte dann in einer Gegend, die von Angehörigen eines Hunnenvolkes aus dem Mittelalter und dunkelhäutigen Weißen aus der Neusteinzeit bevölkert war. Obwohl er unter ihnen einigermaßen gut lebte, vermißte er nach einer Weile doch sein eigenes Volk, die schwarzen Amerikaner. Also machte er sich erneut auf den Weg, geriet in die Gefangenschaft frühzeitlicher Moabiter, entkam und wurde von Hebräern versklavt, die ihm auch noch schien Gral raubten. Aber auch ihnen konnte er entwischen und schlug sich zu einer kleinen Kolonie ehemaliger schwarzer Südstaaten-Sklaven aus der Zeit vor dem Sezessionskrieg durch. Eine Weile fühlte er sich glücklich unter ihnen, bis ihm ihre Onkel-Tom-Mentalität und ihr Aberglaube auf die Nerven gingen und er sich erneut flußabwärts treiben ließ, wo er unter den verschiedensten Gruppierungen lebte. Eines Tages jedoch wurden die Leute, bei denen er sich gerade aufhielt, von großen, blonden Weißen – möglicherweise irgendwelchen Deutschen – überfallen, die ihn im Kampf töteten.

Als Hacking wieder erwachte, befand er sich hier. Und er gelangte zu der Ansicht, daß nur solche Staaten ohne rassistische Umtriebe existieren können, in denen von vornherein jeder die gleiche Hautfarbe und den gleichen Geschmack hat und der gleichen Zeitperiode entstammt. Er ist der Meinung, daß jede andere Gesellschaftsform zum Scheitern verurteilt ist, da sich die Menschen niemals ändern. Auf der Erde hatte er noch an einen Umschwung glauben können, weil die jungen Leute Vorurteile mit ins Grab nahmen. Aber hier ist das nicht möglich, weil die Vorurteilsbeladenen in der Mehrheit sind und die Gruppen der dem späten zwanzigsten Jahrhundert entstammenden jungen Weißen in der Minderzahl. Und nur dort würde es möglich sein, ohne Rassismus zu leben. Natürlich hatten auch die Weißen aus der Frühzeit der Menschheit nichts gegen die Schwarzen – aber es ist für einen zivilisierten Menschen äußerst schwierig, unter ihnen zu leben.«

Sam fragte: »Auf was wollen Sie hinaus, Sinjoro Firebrass?«

»Wir wollen eine homogene Nation. Natürlich ist es nahezu unmöglich, ausschließlich Schwarze aus dem zwanzigsten Jahrhundert um uns zu sammeln, aber wir können zumindest so viele Schwarze zu uns holen wie möglich. Wir sind darüber informiert, daß in Parolando um die dreitausend Schwarze leben. Wir möchten sie gegen unsere Draviden, Araber und sonstigen Nichtschwarzen eintauschen. Hacking ist derzeit dabei, auch Ihren Nachbarn ähnlich lautende Vorschläge zu unterbreiten, aber gegen sie hat er nichts in der Hand.«

König John richtete sich auf und sagte laut: »Sie meinen, er besitzt nichts, was unsere Nachbarn gerne von ihm hätten?«

Firebrass sah ihn kühl an und erwiderte: »So könnte man es ausdrücken. Zumindest ist das im Moment noch der Fall.«

»Meinen Sie, das würde sich ändern, sobald Sie genügend Metallwaffen besitzen?« fragte Sam.

Firebrass zuckte die Achseln.

John schmetterte seinen leeren Becher mit aller Kraft auf die Tischplatte. »Nun, auch wir wollen weder ihre Araber noch ihre Draviden oder sonst irgend jemand, der sich bei Ihnen herumtreibt!« donnerte er. »Aber ich will Ihnen etwas anderes erzählen! Für jede Tonne Bauxit oder Kryolit und jede Unze Platin werden wir Ihnen einen unserer schwarzen Bürger überlassen! Was Ihre sarazenischen Heiden angeht, so können Sie sie meinetwegen flußabwärts jagen oder noch am besten gleich ersäufen!«

»Moment mal«, unterbrach ihn Sam. »Wir können doch unsere Mitbürger nicht so einfach verkaufen! Wenn sie freiwillig dazu bereit sein sollten – gut! Aber wir können doch nicht einfach Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg treffen! Immerhin haben wir hier eine Demokratie!«

Johns Ausbruch hatte Firebrass’ Gesicht verfinstert. »Ich habe keinesfalls gesagt, daß Sie uns die Leute schenken sollen«, sagte er. »Wir sind schließlich keine Sklavenhändler. Was wir anstreben, ist ein Austausch eins zu eins. Die Wahhabi-Araber, die hier von ar-Rahman und Fazghuli repräsentiert werden, sind der Ansicht, in Soul City nicht willkommen zu sein. Sie wären durchaus bereit, irgendwo hin zu gehen, wo sie ihre eigene Gemeinschaft – oder Kasbah, wie sie es nennen – gründen könnten.«

Das kam Sam nicht ganz geheuer vor. Warum konnten die Araber nicht das gleiche innerhalb der Grenzen von Soul City tun? Warum sammelten sie sich nicht einfach und wanderten aus? Immerhin war einer der Vorzüge dieser Welt die Tatsache, daß man sich weder um seine Ernährung noch um irgendwelche Besitzstände zu kümmern brauchte. Jeder Mensch konnte das, was ihm gehörte, bequem auf dem Rücken tragen und sich dorthin verziehen, wo Bambus wuchs und genug Platz war, um sich eine Hütte zu bauen.

Es war nicht unmöglich, daß Hacking seine Leute deswegen in Parolando haben wollte, weil sie für ihn die ideale Konterbande darstellten, wenn er sich plötzlich dazu entschloß, gegen Sam und seine Leute vorzugehen.

»Wir werden den Vorschlag mit dem Eins-zu-eins-Austausch, den Sinjoro Firebrass formuliert hat, prüfen«, sagte Sam. »Das ist alles, was wir im Moment versprechen können. Lassen Sie uns jetzt zu der Frage kommen, ob Sinjoro Hacking uns weiterhin mit den von uns benötigten Mineralien zu beliefern gedenkt?«

»Solange Sie uns weiterhin Rohmaterial und eiserne Waffen dagegen eintauschen«, sagte Firebrass, »aber Hacking sinniert jetzt schon darüber nach, ob er nicht die Preise erhöhen soll.«

Jetzt war es Johns Faust, die auf die Tischplatte niederkrachte. »Wir lassen uns nicht ausrauben!« schrie er. »Sie spielen eine zu hohe Karte! Setzen Sie uns nicht unter Druck, Sinjoro Firebrass, sonst werden Sie letzten Endes feststellen müssen, daß Sie gar nichts gewonnen haben! Überhaupt nichts! Nicht einmal Ihr Leben!«

»Sachte, sachte, Majestät«, wandte Sam beruhigend ein. Und zu Firebrass gewandt: »John fühlt sich heute nicht sonderlich wohl. Bitte verzeihen Sie ihm. Auf jeden Fall hat er seinen Standpunkt. Und den müssen wir achten.«

Abdullah X, ein großer, schwarzer Mann, sprang plötzlich auf und deutete mit dem Zeigefinger auf Sam, als wollte er ihn aufspießen. Dann sagte er auf englisch: »Es würde euch Säcken besser anstehen, uns nicht für dümmer zu halten als wir sind. Wir wollen Ihren Schund überhaupt nicht, Mr. Weißkopf! Gar nichts davon! Und schon gar nicht wollen wir etwas von einem Burschen wie Ihnen, der ein solches Buch über Nigger-Jim geschrieben hat! Wir wollen hier keine weißen Rassisten, und daß wir mit Ihnen verhandeln, liegt daran, daß wir im Moment keine Möglichkeiten haben.«

»Immer mit der Ruhe, Abdullah«, warf Firebrass ein. Er lächelte plötzlich, und Sam fragte sich, ob dies der zweite Teil eines vorher abgesprochenen Dialogs war. Möglicherweise aber fragte Firebrass sich im Moment ebenfalls, ob auch Johns Explosion Teil eines abgekarteten Spiels sein mochte. Schauspieler brauchten zwar nicht die Fähigkeiten von Politikern zu haben, aber umgekehrt war ein Überleben in der Haifischbranche wohl nicht möglich.

Sam ächzte und sagte dann: »Sie haben Huckleberry Finn gelesen, Sinjoro X?«

Abdullah schnaufte und erwiderte: »Ich lese keinen Schund.«

»Dann wissen Sie also gar nicht, über was Sie reden, oder?«

Abdullahs Gesicht verfinsterte sich. Firebrass grinste.

»Ich brauchte diesen rassistischen Dreck gar nicht zu lesen, Mann!« schrie Abdullah. »Hacking hat mir genug darüber erzählt, und was er sagte, reicht mir schon!«

»Sie lesen es, und dann kommen Sie zurück, damit wir darüber diskutieren können«, erwiderte Sam.

»Sind Sie übergeschnappt?« fauchte Abdullah. »Sie wissen genauso gut wie ich, daß es hier keine Bücher mehr gibt!«

»Dann steht die Sache wohl eins zu null für mich, oder wie sehen Sie das?« erwiderte Sam. Er zitterte ein wenig; es war ihm bisher noch nie passiert, in diesem Ton von einem schwarzen Mann angesprochen zu werden. »Außerdem«, fügte er hinzu, »haben wir hier kein literarisches Kaffekränzchen einberufen. Laßt uns zum Thema zurückkommen.«

Abdullah hörte allerdings nicht auf, die Bücher zu verfluchen, die Sam geschrieben hatte. Schließlich platzte John der Kragen. Er sprang auf und schrie: »Silentu, negraco!«

Damit brachte er das Faß zum Überlaufen.

Es folgte eine Sekunde schockierten Schweigens. Abdullahs offener Mund klappte zu, und er warf Firebrass einen triumphierenden, ja, beinahe erfreuten Blick zu. Der Vertreter Hackings biß sich auf die Unterlippe. John lehnte sich mit geballten Fäusten auf die Tischplatte und starrte finster um sich. Sam paffte verdrossen an seiner Zigarre. Er wußte, daß die Verachtung, die der Ex-König allen Menschen entgegenbrachte, egal wie ihre Hautfarbe auch aussah, ihn dazu verleitet hatte, diesen Terminus in eine Sprache einzubringen, in der er bisher gar nicht existiert hatte. John hatte im Grunde keine rassistischen Ansichten; während seines Lebens auf der Erde waren ihm nicht mehr als fünf oder sechs Schwarze über den Weg gelaufen. Aber natürlich wußte er sehr gut, wo man den Hebel ansetzen mußte, wenn man jemanden beleidigen wollte. Dieses Wissen entsprach völlig seiner Natur.

»Ich gehe!« verkündete Abdullah X. »Und falls ich zu Hause ankommen sollte, können Sie sich jetzt schon darauf gefaßt machen, daß es mit Aluminium und Platin vorbei ist, darauf können Sie Ihren weißen Arsch verwetten, Mr. Charlie!«

Sam stand auf und sagte: »Warten Sie eine Sekunde. Wenn Sie eine Entschuldigung wünschen, bin ich bereit, sie im Namen von ganz Parolando auszusprechen.«

Abdullah sah Firebrass an, doch der schaute in eine andere Richtung. Dann sagte Abdullah: »Ich will nur eine Entschuldigung von ihm hören!« Er deutete auf König John.

Sam beugte sich zu John hinüber und sagte leise: »Es steht für uns zuviel auf dem Spiel, als daß Sie sich erlauben könnten, den stolzen Monarchen zu spielen, Majestät! Sie würden Ihnen nur in die Hände arbeiten, wenn Sie sich jetzt weigern würden. Sie haben etwas vor, darauf gehe ich jede Wette ein. Entschuldigen Sie sich.«

Johns Gestalt straffte sich. Dann stieß er hervor: »Ich denke gar nicht daran, mich bei irgend jemandem zu entschuldigen; und schon gar nicht bei einem Menschen von niedriger Abkunft, der außerdem noch ein ungläubiger Heide ist!«

Sam stieß ein aufgebrachtes Knurren hervor und fuchtelte mit seiner Zigarre vor Johns Gesicht herum. »Hast du denn immer noch nicht kapiert, daß es weder königliches Geblüt noch so etwas wie ein von Gott verliehenes natürliches Recht des Adels gibt und wir alle von niedriger Abkunft – oder Könige – sind?«

John gab keine Antwort. Er ging hinaus. Abdullah sah Firebrass an, der ihm zunickte. Abdullah ging ebenfalls hinaus.

Sam sagte: »Nun, Sinjoro Firebrass, was machen wir jetzt? Werden Sie mit Ihren Leuten nach Hause fahren?«

Firebrass schüttelte den Kopf. »Nein, ich halte nichts von hastig getroffenen Entscheidungen. Aber soweit es die Delegierten von Soul City anbetrifft, ist die Konferenz beendet. Ehe John Lackland sich nicht entschuldigt… Ich gebe ihm die Möglichkeit, bis morgen Mittag darüber nachzudenken.«

Firebrass wandte sich zum Gehen. Sam sagte: »Ich werde mit ihm sprechen, auch wenn sein Dickschädel den eines jeden Missouri-Maulesels bei weitem übertrifft.«

»Es wäre schade, wenn wir unsere Besprechung beenden müßten, bloß weil ein Mann sich nicht zusammenreißen kann«, erwiderte Firebrass. »Und außerdem fände ich es schade, wenn unser Handel zum Erliegen käme, weil das darauf hinausliefe, daß aus Ihrem geplanten Schiff nichts wird.«

»Verstehen Sie mich nicht falsch, Sinjoro Firebrass«, sagte Sam, »und das, was ich Ihnen jetzt sage, soll keinesfalls eine Drohung sein: Ich werde das Aluminium erhalten, und wenn ich dazu John eigenhändig aus diesem Land hinauswerfen müßte. Und auch dann, wenn meine einzige Alternative darin bestünde, daß ich zu Ihnen hinunterkommen und mir das Zeug selber holen müßte.«

»Ich verstehe«, sagte Firebrass. »Aber Sie scheinen nicht zu begreifen, daß Hacking gar kein Interesse daran hat, mit jemandem seine Kräfte zu messen. Er will nichts anderes als ein sicheres Staatsgebilde, in dem es den Leuten Freude macht zu leben. Und es wird ihnen Freude machen, weil sie in diesem Staat alle die gleiche Hautfarbe haben und dieselben Ansichten vertreten. Sie verfolgen auch die gleichen Ziele.«

Sam grunzte. Dann meinte er: »Na schön.« Er verfiel in ein tiefes Schweigen, aber als Firebrass Anstalten machte, den Raum zu verlassen, sagte er: »Einen Moment noch. Haben Sie Huckleberry Finn gelesen?«

Firebrass wandte sich um. »Sicher. Als ich noch ein kleiner Junge war, hielt ich es sogar für ein großartiges Buch. Als ich dann aufs College ging, las ich es noch einmal und erkannte seine Schwächen; aber trotzdem mochte ich es immer noch, selbst als Erwachsener.«

»Hat es Sie gestört, daß Jim ständig >Nigger-Jim< genannt wurde?«

»Sie sollten nicht vergessen, daß ich 1975 auf einer Farm in der Nähe von Syracuse, New York, geboren wurde. Zu dieser Zeit sah die Welt schon ziemlich anders aus. Die Farm hatte ursprünglich mein Ur-Ur-Urgroßvater aufgebaut, der von Georgia nach Kanada ging und sich nach dem Bürgerkrieg dort niederließ. Nein, ich kann nicht behaupten, daß dieses Wort mich verletzte. In der Zeit, in der Sie dieses Buch schrieben, wurden alle Neger öffentlich >Nigger< genannt, ohne daß jemand groß darüber nachdachte. Natürlich war das Wort eine Beleidigung, aber Sie als Autor haben doch nichts anderes getan, als die Leute, die damals lebten, so zu beschreiben, wie sie tatsächlich waren und sprachen. Was die ethischen Grundvoraussetzungen Ihres Romans anging, der innere Konflikt, dem Huck ausgesetzt war, als er sich zwischen seinen Bürgerpflichten und den Gefühlen, die er Jim entgegenbrachte, entscheiden mußte – was schließlich damit endete, daß er in Jim einen Menschen sah und sein Gewissen einen herrlichen Sieg davontrug –, hat mich tief bewegt. Im ganzen war das Buch für mich eine Anklageschrift gegen die Sklaverei, die halbfeudale Gesellschaft jener Zeit und den Aberglauben. Es prangerte alle Dummheiten jener Zeit an. Weswegen also sollte ich mich dadurch verletzt fühlen?«

»Aber warum…«

»Abdullah? Sein richtiger Name ist George Robert Lee. Er wurde 1925 geboren, und Hacking 1938. Damals waren die Schwarzen für eine Menge Weiße noch Nigger, wenn auch nicht für alle. Sie fanden damals heraus, daß sie, wenn sie die Bürgerrechte haben wollten, keine andere Wahl hatten, als die Gewalt, mit denen die Weißen sie unterdrückten, mit Gegengewalt zu beantworten. Sie starben 1910, nicht wahr? Aber ich nehme an, daß eine ganze Reihe von Leuten, die nach Ihnen lebten, Sie über die spätere Zeit informiert haben?«

Sam nickte. »Ich kann sie mir nur schwer vorstellen. Davon möchte ich natürlich die Rassenunruhen ausnehmen, denn die hat es auch schon zu meinen Lebzeiten gegeben. Soweit ich darüber informiert bin, hat es übrigens nie wieder einen Aufstand gegeben wie jenen, der während des Bürgerkriegs in New York als Reaktion auf das Draft-Gesetz erfolgte. Was ich meine, wenn ich sage, daß ich mir das späte zwanzigste Jahrhundert nur schwer vorstellen kann, ist die damals herrschende Zügellosigkeit.«

Firebrass erwiderte lachend: »Und das, obwohl Sie jetzt in einer Gesellschaft leben, die weitaus freier und zügelloser ist – jedenfalls vom Standpunkt des neunzehnten Jahrhunderts aus betrachtet –, als jede andere, die im zwanzigsten existierte? Obwohl Sie sich an sie angepaßt haben?«

»Wahrscheinlich habe ich das«, erwiderte Sam. »Die ersten zwei Wochen der absoluten Nacktheit nach der Wiedererweckung schienen mir jedenfalls darauf hinzudeuten, daß die Menschen nicht mehr das geringste mit ihrer eigenen Vergangenheit zu tun haben würden. Aber nicht nur deswegen, weil sie nackt waren: Der plötzliche Schock des Weiterlebens nach dem Tode hätte vielerlei fixe Ideen und Verhaltensweisen zerschmettern müssen. Aber das war ein Trugschluß. Die Unbelehrbaren sind immer noch unter uns, und Abdullah ist da ein besonders gutes Beispiel.«

»Sagen Sie, Sinjoro Clemens«, meinte Firebrass, »Sie waren doch ein früher Liberaler und Ihrer Zeit in vielen Dingen weit voraus. Sie haben sich gegen die Sklaverei ausgesprochen und für die Gleichheit stark gemacht. Als Sie die Magna Charta Parolandos verfaßten, haben Sie darauf bestanden, daß in diesem Staat alle Menschen die gleichen Rechte haben, ganz gleich welcher Rasse oder welchem Geschlecht sie angehören. Nun habe ich festgestellt, daß direkt neben Ihnen ein schwarzer Mann mit einer weißen Frau zusammenlebt. Seien Sie ehrlich: Stört es Sie, das ansehen zu müssen?«

Sam saugte an seiner Zigarre, stieß dann den Rauch wieder aus und erwiderte: »Um ehrlich zu sein: Ja, es störte mich. Und um die reine Wahrheit zu sagen: Es brachte mich beinahe um! Was mein Bewußtsein sagte und mit welchen Reflexen ich darauf reagierte, waren zwei völlig verschiedene Dinge. Zuerst konnte ich es nicht verstehen, doch ich hielt den Mund und ging eines Tages zu den beiden hinüber, um sie kennenzulernen. Jetzt, ein Jahr später, wo ich weiß, daß sie nette Leute sind, stört es mich eigentlich nur noch ein ganz klein wenig. Und ich bin sicher, daß ich diesen Rest an Abneigung bald ganz überwunden haben werde.«

»Der Unterschied zwischen Ihnen – dem weißen Liberalen – und der Jugend unserer Zeit war der, daß wir uns an solchen Dingen überhaupt nicht mehr störten. Wir akzeptierten sie einfach.«

»Glauben Sie nicht, daß es schon ein Fortschritt ist, wenn ich mich an meinen eigenen Haaren aus dem Sumpf anerzogener Vorurteile gezogen habe?« fragte Sam.

»Rattetitack«, sagte Firebrass und verfiel wieder in ein Englisch, das Sam größte Schwierigkeiten bereitete. »Zwei Grade unter hundert zu stehen ist besser als neunzig. Auf alle Fälle.«

Er ging hinaus. Jetzt war Sam allein. Er blieb noch eine Weile sitzen, bevor er aufstand und ebenfalls hinausging. Der erste Mensch, der ihm begegnete, war Hermann Göring. Sein Kopf war immer noch verbunden, aber sein Gesicht hatte wieder etwas Farbe. Außerdem trug er nicht mehr diesen leidenden Blick zur Schau.

»Was macht Ihr Kopf?« fragte Sam.

»Er schmerzt immer noch. Aber wenigstens kann ich jetzt wieder laufen, ohne das Gefühl zu haben, jemand würde ihn mit glühenden Nadeln piesacken.«

»Es gefällt mir nicht, mitansehen zu müssen, wenn ein Mensch leidet«, meinte Sam. »Und damit Sie nicht noch mehr Leiden ausgesetzt sind, würde ich vorschlagen, daß Sie solchen unangenehmen Dingen dadurch aus dem Wege gehen, indem Sie Parolando verlassen.«

»Wollen Sie mich etwa bedrohen?«

»Aber nicht doch. Es gibt hier allerdings eine ganze Anzahl von Leuten, die sich mit einer Bedrohung Ihrer Person nicht zufrieden geben würden. Ich weiß nicht einmal genau, ob darunter nicht einige sind, die Sie liebend gern zum Fluß hinunterschleppen und ersäufen möchten. Sie gehen den Leuten mit Ihren Predigten auf die Nerven. Dieser Staat hier wurde nur aus einem einzigen Grund gegründet: Um ein Schiff zu bauen. Jeder kann hier grundsätzlich sagen, was er will, solange er sich im Rahmen der herrschenden Gesetze äußert, aber man darf nicht vergessen, daß es überall Leute gibt, die die Gesetze übertreten, weil irgend jemand sie dazu provoziert. Ich würde es nicht mögen, diese Leute anschließend verurteilen zu müssen, weil sie sich Ihnen gegenüber zu Gewalttaten haben hinreißen lassen. Deswegen würde ich es begrüßen, wenn Sie sich auf Ihren christlichen Auftrag beschränkten und Ihre Nase aus allen anderen Dingen heraushielten. Das, glaube ich, sollte genügen, um niemanden zu einer Gewalttat zu verleiten.«

»Ich bin kein Christ«, sagte Göring.

»Ich schätze Menschen, die es wagen, das zuzugeben. Und ich habe ganz sicher noch nie einen Prediger getroffen, der das auf so viele verschiedene Arten sagen konnte wie Sie.«

»Sinjoro Clemens«, begann Göring, »als ich noch ein junger Mann war und in Deutschland lebte, habe ich Ihre Bücher gelesen, zuerst auf deutsch, dann auf englisch. Aber hier werden weder Ironie noch Zynismus dazu beitragen, uns weiterzubringen. Obwohl ich abstreite, ein Christ zu sein, bin ich mir dennoch sicher, ein Repräsentant der besseren Seiten des Christentums zu sein. Ich bin Missionar der Kirche der Zweiten Chance. Alle irdischen Religionen haben sich selbst diskreditiert, auch wenn manche Leute das noch immer nicht einsehen wollen. Unsere Kirche repräsentiert die erste Religion, die auf dieser neuen Welt begründet wurde, und ist die einzige, die reale Überlebenschancen hat. Sie…«

»Ersparen Sie mir diese Lektion«, sagte Sam. »Ich habe sowohl von Ihren Vorgängern als auch von Ihnen selbst genug zu diesem Thema gehört. Was ich Ihnen in aller Freundlichkeit nahe bringen will, ist nichts anderes, als daß ich danach strebe, Sie mit allen Kräften vor körperlichem Schaden zu bewahren und – um ehrlich zu sein – verschwinden zu sehen. Sie sollten sich davonmachen, und zwar gleich, auf der Stelle. Bevor man Sie umbringt.«

»In einem solchen Fall würde ich einen Tag später anderswo wieder erwachen und die Wahrheit jenen Menschen predigen, unter denen ich mich wiederfinde. Sie sehen, hier wie auf der Erde ist das Blut des Märtyrers die Saat der Kirche. Wer immer uns auch tötet, er sorgt lediglich dafür, daß wir die Wahrheit, die Möglichkeit zur Erlangung ewiger Seligkeit, nur noch mehr Menschen zukommen lassen. Morde haben unsere Botschaft weitaus schneller flußaufwärts und flußabwärts getragen als jede konventionelle Art der Fortbewegung.«

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Sam auf englisch, wie er es des öfteren tat, wenn der Zorn ihn übermannte. »Aber sagen Sie mir, ob diese fortgesetzte Ermordung von Missionaren Ihnen nicht allmählich Kopfzerbrechen bereitet? Befürchten Sie nicht, daß Ihnen eines Tages die Körper ausgehen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Keine These zur Hand?«

Außer einem verwirrten Blick zeigte Göring keinerlei Reaktion. Schließlich sagte Sam auf esperanto: »Eine Ihrer Hauptthesen besagt, wenn ich mich recht erinnere, daß der Mensch nicht wiedererweckt wurde, damit er hier das ewige Leben genießt, sondern weil er sich hier in einer Art Wartezimmer aufhält, in dem er nur kurzfristig untergebracht ist, wenngleich manchem – und besonders dem, der dieser Welt nichts abgewinnen kann – diese kurze Zeit auch recht lang erscheinen mag. Ihre Kirche geht weiterhin von der Existenz einer Analogie zur Seele, einem Etwas, das sie >Psychomorph< nennt, aus, richtig? Manchmal nennt Ihr es auch Ka. Und das müßt Ihr, weil Ihr sonst nicht auf der Beständigkeit der Identität des Menschen beharren könnt. Ohne dieses Ka bleibt ein einmal gestorbener Mensch tot, selbst wenn sein Körper erneut reproduziert wurde und weiterlebt. Der zweite Körper ist dann nichts als eine Reproduktion. Dieser Lazarus verfügt zwar über das Bewußtsein und die Erinnerungen des Gestorbenen, also haltet sich für den Gestorbenen. Aber das ist er nicht. Er ist nicht mehr als ein zum Leben erwecktes Duplikat. Der Tod hat das Leben des wirklichen Menschen beendet. Er hat dieses Tal verlassen.

Aber Ihre Kirche versucht diesem Problem dadurch zu Leibe zu rücken, in dem sie das Ka erfindet, das irgendeine Art von Seele darstellen soll und als Entität interpretiert wird, die zusammen mit dem Körper geboren wird, ihren Träger das ganze Leben hindurch begleitet und alles registriert und aufzeichnet, was der Körper tut. Das Ka müßte also in der Tat so etwas wie ein immaterielles Aufzeichnungsgerät sein, wenn Sie diesen Widerspruch hinzunehmen bereit sind. Und wenn der Körper stirbt, existiert das Ka immer noch. Es existiert in einer Art vierten Dimension oder Polarisation als Aufzeichnung, in der es weder protoplasmische Augen sehen noch mechanische Geräte aufspüren können. Ist das korrekt?«

»Beinahe«, erwiderte Göring. »Sie haben es grob umschrieben, aber im großen und ganzen ist das richtig.«

»Bis jetzt«, fuhr Sam fort und stieß eine dicke Qualmwolke aus, »haben wir – das heißt Sie, nicht ich – nicht mehr getan, als jene Attribute aufgezählt, die man sowohl der christlichen als auch der islamischen und allen anderen Seelen ad nauseam zuschreibt. Aber Sie behaupten, daß die Seele weder in eine Hölle noch in irgendeine Art Himmel gelangt, sondern in einer Art vierdimensionalem Fegefeuer schwebt. Und das würde sie bis in alle Ewigkeit tun, würden sich nicht andere Wesen in ihr Dasein einmischen: Irgendwelche Extraterrestrier, die schon existierten, als es die Menschheit noch gar nicht gab. Diese Überwesen tauchten bereits vor den ersten Menschen auf der Erde auf – und besuchten auch jeden anderen Planeten im Universum, der ihrer Ansicht nach gute Aussichten bot, irgendeines Tages Leben zu entwickeln.«

»Das ist nicht die exakte Wiedergabe unserer These«, unterbrach ihn Göring. »Wir stehen auf dem Standpunkt, daß jede Galaxis eine – oder vielleicht sogar mehrere – frühzeitliche Spezies hervorgebracht hat, die bestimmte Planeten bewohnten. Möglicherweise entwickelte sich diese Spezies in unserer Galaxis, vielleicht aber auch in einer anderen, die längst untergegangen ist, oder einem anderen Universum. In jedem Fall ist diese Spezies weise und wußte seit langem, daß sich auf der Erde irgendwann Leben entwickeln mußte. Deswegen begann sie von dem Augenblick an, als die ersten Lebewesen dort auftauchten, mit der Aufzeichnung desselben – und zwar mit Mitteln, die die Menschen niemals entdeckten.

Zu einem Zeitpunkt, den die Alten – wie wir sie nennen – vorausbestimmen, werden alle diese Aufzeichnungen an einen bestimmten Ort gebracht. Dort erschaffen sie anhand ihrer Unterlagen und mit Hilfe eines Energie-Materie-Umwandlers die Körper der längst Zerfallenen neu und zeichnen dann deren Impulse auf. Dann werden auch diese wieder vernichtet, und die abermals Gestorbenen erwachen auf einer neuen Welt, auf einem Planeten wie diesem, wiederum unter Zuhilfenahme des Energie-Materie-Umwandlers.

Die Psychomorphen oder Kas müssen eine starke Ähnlichkeit mit ihren protoplasmischen Zwillingsbrüdern aufweisen. In dem Augenblick, wo das Duplikat eines toten Körpers hergestellt wird, schließen sie sich selbsttätig an ihn an und beginnen erneut mit ihrer Aufzeichnungstätigkeit. Deswegen enthält jedes Ka, selbst wenn sein Trägerkörper hundertmal getötet und neugeschaffen wurde, stets wieder das gleiche Bewußtsein, die gleichen Erinnerungen und die gleiche Identität, die auch die vorherigen Körper besaßen. Das Ka enthält also keinesfalls nur das Wissen, was sein letzter Körper zu seinen Lebzeiten machte, sondern das Gesamtwissen aller vorherigen. Es enthält sowohl die Erinnerungen der ursprünglichen Existenz wie auch alle späteren Erfahrungen, die nachfolgende Körper in dieser Umwelt erfuhren.«

»Aber!« sagte Sam, fuchtelte mit seiner Zigarre vor Görings Nase herum und stieß ihm beinahe deren glühendes Ende ins Gesicht. »Aber! Sie behaupten, daß kein Mensch eine unendliche Anzahl von Toden sterben kann. Und Sie sagen ferner, daß nach einigen hundert Toden irgendwann einmal der Fall eintritt, wo er nicht mehr aufwacht, weil das fortgesetzte Sterben die Verbindung zwischen Körper und Ka schwächt und es schließlich zu einer Duplikation kommt, die es nicht mehr mitmacht. Dann löst sich das Ka vom Körper, wirbelt durch die geisterhaften Korridore der vierten Dimension – oder durch sonst was – und wird im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Geist, einer verlorenen Seele.«

»Das ist die Essenz unseres Glaubens«, sagte Göring. »Aber ich sollte besser sagen, die Essenz unseres Wissens, weil wir wissen, daß es so ist.«

Sam runzelte die Stirn. »Ach ja? Sie wissen es?«

»Ja. Der Gründer unserer Kirche erfuhr ein Jahr nach der Wiedererweckung die Wahrheit; genau am Jahrestag des Wiederauferstehens von den Toten. Er hatte sich auf einen Berg zurückgezogen und betete um eine Erleuchtung, als sich ihm ein Mann näherte und ihm Dinge erzählte und zeigte, die kein sterblicher Erdenmensch wissen oder kennen konnte. Dieser Mann war ein Agent der Alten, und er offenbarte ihm die Wahrheit und wies ihn an, in die Welt hinauszugehen und die Doktrin der Zweiten Chance zu verbreiten.

Tatsächlich ist die Bezeichnung >Zweite Chance< ein falscher Begriff, da wir in Wirklichkeit erst unserer Ersten Chance gegenüberstehen, dann wir hatten ja auf der Erde nie die Möglichkeit, das ewige Leben und das Seelenheil zu erringen. Aber unser irdisches Dasein war ein notwendiges Vorspiel auf dem Weg zu dieser Flußwelt. Der Schöpfer erschuf das Universum, und dann züchteten die Alten die Menschheit – und nicht nur sie, denn sie sind auch für alle anderen Formen des Lebens im Universum verantwortlich. Sie züchteten uns! Aber das ewige Heil ist nur dem Menschen vorbehalten! Jetzt liegt es an jedem einzelnen selbst, was er aus sich macht, denn jetzt ist ihm die Chance wirklich gegeben worden!«

»Und nur durch die Existenz der Kirche der Zweiten Chance, nehme ich an«, sagte Sam. An sich hatte er es vermeiden wollen, spöttisch zu wirken, aber es kam einfach über ihn.

»Daran glauben wir«, erwiderte Göring.

»Mit welcher Art von Beglaubigungsschreiben hat sich dieser mysteriöse Fremde denn ausgewiesen?« fragte Sam. Er dachte plötzlich an seinen geheimnisvollen Bekannten und fragte sich, ob die beiden vielleicht identisch sein mochten. So etwas wie Panik stieg in ihm hoch. Vielleicht handelte es sich aber auch um verschiedene Leute aus dem gleichen Lager? Sein Fremder, der Mann, der für den Absturz des Nickeleisenmeteoriten verantwortlich war und dafür gesorgt hatte, daß es Joe Miller gelungen war, den von Nebeln umsäumten Turm im nördlichen Polarsee zu sehen, war ein Renegat; jemand, der sich von seinen Leuten heimlich losgesagt hatte. Das heißt, wenn man ihm glauben konnte.

»Beglaubigungsschreiben?« fragte Göring. »Erwarten Sie etwa von Gott Schriftstücke?« Er lachte. »Der Gründer unserer Kirche erkannte schon daran, daß sein Besucher Dinge wußte, die nur ein Gott oder ein höheres Wesen wissen konnte, daß er keinen gewöhnlichen Menschen vor sich hatte. Und außerdem zeigte dieser Bote ihm Dinge, die er einfach glauben mußte. Er erzählte ihm, wie man uns zum Leben erweckt habe und warum. Er hat ihm natürlich nicht alles erzählt, aber irgendwann werden wir auch den Rest erfahren. Es gibt Dinge, die wir selbst herausfinden müssen.«

»Wie hieß dieser seltsame Kirchengründer?« fragte Sam. »Oder wissen Sie das nicht? Ist das auch eines Ihrer Geheimnisse?«

»Niemand weiß es«, erwiderte Göring. »Und es ist auch nicht notwendig, darüber informiert zu sein. Was ist schon ein Name? Er nannte sich selbst Viro. Das ist Esperanto und heißt nichts anderes als >Mensch<, abgeleitet vom lateinischen Vir. Wir nennen ihn La Fondinto, den Gründer – oder La Viro, den Menschen.«

»Haben Sie ihn je getroffen?«

»Nein, aber ich habe zwei andere kennen gelernt, die ihn sehr gut kannten. Einer davon war sogar dabei, als La Viro die erste Predigt hielt. Das war sieben Tage nach seinem Zusammentreffen mit dem Fremden.«

»Sind Sie sicher, daß La Viro ein Mann ist und keine Frau?«

»Oh, ja!«

Sam seufzte tief auf und sagte: »Das beruhigt mich zutiefst. Wenn sich nämlich herausgestellt hätte, daß der Gründer mit Mary Baker Eddy identisch ist, müßte ich mir einen Mühlstein um den Hals hängen und mich ersäufen.«

»Wie bitte?«

»Schon gut«, erwiderte Sam und grinste. »Ich schrieb einst ein Buch über sie, deswegen habe ich keine Lust, ihre Bekanntschaft zu machen. Sie würde mich garantiert skalpieren. Aber einige dieser mystischen Dinge, die Sie mir erzählten, Schemen geradezu frappierend auf sie zu passen.«

»Abgesehen von der Existenz des Ka sind alle unsere Erklärungen rein physikalisch. Und für unseren Realitätsbegriff – den Sie sicher für einen schiefen Blickwinkel halten – ist das Ka durchaus auch stofflich. Wir glauben, daß unsere Thesen wissenschaftlichen Anspruch besitzen, weil sie auf der Wissenschaft der Alten basieren, die uns erneut das Leben schenkten. In unserer Religion ist nichts Übernatürliches, ausgenommen unseren Glauben an den Schöpfer natürlich. Aber alles andere ist reine Wissenschaft.«

»Wie Mary Baker Eddys Religion?« fragte Sam.

»Ich habe von dieser Frau noch nie gehört.«

»Wie also erreichen wir das Stadium der ewigen Seligkeit?«

»Indem wir zur Liebe selbst werden. Das impliziert natürlich, daß wir keinerlei Gewalt praktizieren, nicht einmal Selbstverteidigung zulassen. Wir glauben daran, daß wir diesen Zustand nur dadurch erreichen können, indem wir ein transzendentes Stadium durchlaufen, was wir wiederum nur dadurch erringen, indem wir uns selbst erkennen lernen. Aber bis jetzt hat der größte Teil der Menschheit noch nicht einmal gelernt, den Traumgummi richtig einzusetzen. Sie hat die Droge falsch angewendet; ebenso falsch wie alles andere.«

»Und Sie glauben, daß Sie diesen Zustand des Selbst-Liebe-werdens, was immer diese Phrase auch bedeuten soll, bereits erreicht haben?«

»Noch nicht. Aber ich bin auf dem besten Wege dazu.«

»Durch Traumgummi?«

»Nicht allein damit. Er leistet Hilfestellung. Aber man muß auch handeln, predigen und bereit sein, für seinen Glauben zu leiden. Und man muß lernen, nicht zu hassen, und statt dessen zu lieben.«

»Deswegen sind Sie also gegen den Bau meines Schiffes. Sie glauben, daß wir unsere Zeit damit sinnlos vergeuden.«

»Sie verfolgen ein Ziel, das niemandem etwas Gutes bringen wird. Jetzt schon kann man erkennen, wohin Ihr Plan uns gebracht hat: Das Land ist verwüstet und verödet. Man schlägt sich die Schädel ein, kämpft um das Metall. Es herrschen Blutdurst, Mißtrauen und Verrat. Und Haß, Haß, Haß! Und aus welchem Grund? Damit Sie etwas haben können, das niemand sonst hat: Ein gigantisches Schiff aus Metall, das von Elektrizität angetrieben wird; das höchste Gut, das dieser Planet anzubieten hat: Ein Narrenschiff, mit dem Sie flußaufwärts fahren wollen, um die Quellen des Flusses zu erkunden. Und wenn Sie Ihr Ziel erreicht haben, was dann? Sie sollten sich lieber auf die lange Fahrt zu den Ursprüngen Ihrer Seele vorbereiten!«

»Es gibt einige Dinge«, sagte Sam, »von denen Sie keine Ahnung haben.« Dennoch hatte seine Selbstzufriedenheit einen Knacks erlitten. Da war irgendwo ein Teufel durch die Dunkelheit gekrochen und hatte ihm etwas ins Ohr geflüstert. Und gleichzeitig hatte sich ein anderer an den Gründer dieser Kirche herangemacht und ihm andere Instruktionen gegeben. Welcher von beiden war der wahre Teufel? Jener, der den Kirchenmann aufgesucht hatte? Oder das Wesen, das bei Samuel Clemens aufgetaucht war und behauptet hatte, die anderen seien die Teufel, er hingegen habe nichts anderes im Sinn, als die Menschheit zu retten?

Jeder Teufel würde sich einem Menschen auf diese Weise nähern.

»Treffen meine Worte Sie nicht im Innersten Ihres Herzens?« fragte Göring.

Sam schlug sich mit der geballten Faust gegen die Brust und sagte: »Ja, zumindest werde ich das Gefühl nicht los, nun eine Magenverstimmung zu haben.«

Göring ballte die Fäuste und preßte die Lippen aufeinander.

Sam hob die Hand. »Vorsicht! Achten Sie darauf, daß die Liebe nicht von Ihnen weicht«, sagte er und ging weiter. Dennoch kam er sich nicht wie ein strahlender Sieger vor. Er verspürte tatsächlich ein drückendes Gefühl in der Magengegend. Obwohl er an sich die Meinung vertrat, daß man über blinde Ignoranz nur lachen sollte, verursachte sie in ihm stets körperliches Unbehagen.

 

Auf dem Zeitstrom
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